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Chronische Symptome und Gefühle: Wut

  • Autorenbild: Grete Strunz
    Grete Strunz
  • 10. Juli
  • 8 Min. Lesezeit

Gefühle fühlen: Wut

Stell dir vor: du hast dich mit einer guten Freundin auf einen gemeinsamen Abend gefreut. Die Freundin sagt jedoch im letzten Moment ab – zum dritten Mal in Folge. Du spürst vielleicht innerlich eine Welle von Enttäuschung und Wut. Was machst du?


Du greifst sofort zum Handy und schreibst deiner Freundin eine wütende Nachricht: „Ehrlich, ich habe langsam genug davon! Du bist total unzuverlässig – warum mache ich mir überhaupt noch die Mühe?“ Du fühlst dich im ersten Moment erleichtert, weil die angestaute Spannung raus ist. Doch kurz danach kommen Schuldgefühle, Scham – und die Angst, die Freundschaft beschädigt zu haben.


Oder bist du eher diejenige, die beim Absage-Anruf tapfer ins Telefon lächelt und sagt: „Ach, kein Problem, vielleicht ein andermal!“ Dann legst du auf – und fühlst dich innerlich leer, enttäuscht, vielleicht sogar traurig. Die Wut wird nicht gefühlt, sondern weggeschoben. Stattdessen kommen Gedanken wie: Ich bin wahrscheinlich einfach zu empfindlich. Ich sollte mir nichts draus machen. Nach außen wirkst du freundlich, verständnisvoll – aber dein Körper bleibt angespannt, der Magen zieht sich zusammen. Vielleicht wirst du später Kopfschmerzen haben oder schlecht schlafen.


Reflektiere mal kurz wie du in einer solchen Situation reagieren würdest oder reagiert hast?

Wie leicht oder schwer fällt es dir generell, deine Wut zu spüren? Kommt Wut bei dir schnell – oder eher gar nicht? Welche inneren (Glaubens)Sätze tauchen auf, wenn du wütend bist? Wie wurde in deiner Familie mit Wut umgegangen? Was brauchst du, um dich mit Wut sicher zu fühlen?


Wut als Grundemotion


Unter dem Menüpunkt über Gefühle konntest du bereits lesen, wie unsere Gefühle bzw. Emotionen unser Wohlbefinden beeinflussen und sogar chronische Symptome hervorrufen können. Vor allem unbewusste und unterdrückte Gefühle sowie innere Konflikte, die keinen sicheren Raum bekommen, finden häufig irgendwann Ausdruck in Form von chronischen körperlichen Symptomen.


Wut - sie hat ein schlechtes Image.  Viele von uns haben gelernt, dass man wütend nicht sein sollte – schon gar nicht laut, fordernd oder expressiv.  Dabei ist Wut eine ganz natürliche Grundemotion. So grundlegend wie Angst, Traurigkeit, Freude oder Überraschung. Wut ist nicht anders. Sie ist ein Teil unseres emotionalen Immunsystems. 

Wut ist evolutionär tief in uns verankert.  Sie zeigt: Eine Grenze wurde verletzt. Ich fühle mich bedroht, übergangen, nicht gesehen.  Und genau deshalb ist sie so wichtig – sie schützt unser inneres Gleichgewicht, unser Selbstwertgefühl und unsere Integrität. 


Warum glauben wir, dass Wut „gefährlich“ ist?


Warum spüren viele von uns instinktiv: Wut ist heikel. Wut ist nicht sicher? Das ist kein Zufall – sondern oft die Folge unserer Prägungen, Erfahrungen und inneren Überzeugungen.

Vielleicht hast du Wut in deiner Kindheit als laut, überfordernd oder sogar beängstigend erlebt. Oder dass du nicht sicher bist, wenn du wütend bist. Dass Liebe oder Geborgenheit entzogen werden, wenn du deine Grenzen zeigst.


Vielleicht kannst du dich in diesen Überzeugungen oder Erfahrungen wiederfinden und erkennen, was dazu beigetragen hat, dass sich Wut so bedrohlich anfühlen kann – und warum es dir jetzt als Erwachsene schwerfallen kann, einen Zugang zu ihr zu finden:


1. Du verwechselst Wut mit Gewalt

  • Wut fühlen heißt nicht: Wut ausagieren.

    Aber wenn du keine sicheren Erfahrungen mit innerlich gehaltener Wut gemacht hast, wirken die ersten Impulse wie „Gefahr“. „Was, wenn ich jemanden verletze? Oder alles kaputt mache?“


2. Wut wurde in der Kindheit bestraft oder abgewertet 

  • Du wurdest als „frech“, „unartig“ oder „respektlos“ bezeichnet, wenn du deine Wut gezeigt hast. 

  • Vielleicht wurde deine Wut ignoriert, lächerlich gemacht oder sogar mit Liebesentzug bestraft. 

    Du hast gelernt: Wenn ich wütend bin, werde ich abgelehnt. Daraus entsteht die tiefe Überzeugung: Wut ist schlecht – und gefährlich für Beziehungen. 

 

3. Wut wurde in der Familie unkontrolliert und zerstörerisch ausgedrückt 

  • Du hast erlebt, wie Eltern oder andere Erwachsene ihre Wut durch Schreien, Einschüchtern, Gewalt oder Drohungen gezeigt haben. 

    Vielleicht war Wut in deinem Umfeld immer gleich bedrohlich, laut, gefährlich. Die kindliche Schlussfolgerung: Wut ist eine unkontrollierbare, zerstörerische Kraft. Ich will sie um jeden Preis vermeiden. 

 

4. Du hast gelernt, dich für andere „zurückzunehmen“ 

  • Als Kind hast du vielleicht die Rolle des Friedlichen, Vernünftigen, Angepassten übernommen. 

    Du hast Konflikte gemieden, weil du „nicht zur Last fallen“ oder „es allen recht machen“ wolltest. In diesem Modus wirkt Wut egoistisch oder falsch – auch wenn sie eigentlich nur deine gesunden Grenzen zeigen will. 

 

5. Du konntest keine gesunde Wut-Vorbildfunktion erleben 

  • Es gab niemanden, der dir gezeigt hat, wie man ruhig, klar und selbstverantwortlich wütend sein kann. 

    Vielleicht hast du Wut nur als Explosion – oder als totalen Rückzug erlebt. Ohne Vorbild entsteht Unsicherheit: Wie soll ich wütend sein, ohne zu verletzen? 

 

6. Kulturelle oder geschlechtsspezifische Konditionierungen 

  • Frauen lernen oft: „Sei nett. Sei ruhig. Sei verständnisvoll.“  Männer lernen oft: „Zeig keine Schwäche. Aber Aggression ist okay.“ 

    Das führt dazu, dass viele Frauen ihre Wut unterdrücken – und viele Männer sie nur in Form von Gereiztheit oder körperlicher Anspannung leben können. 

 

7. Wut fühlt sich „unkontrollierbar“ an 

  • Wut bringt körperliche Intensität mit sich: schneller Puls, Druck, Hitze, Zittern. 

    Das kann sich überfordernd oder sogar „zu viel“ anfühlen – besonders, wenn man nicht gelernt hat, Emotionen körperlich zu halten. Wut wird dann als Gefahr erlebt – statt als natürliche Energie, die fließen darf. 

 

8. Du identifizierst dich mit deinem „liebenswerten“ oder „funktionierenden“ Ich 

  • Wenn du dich vor allem als freundlich, hilfsbereit, ruhig oder spirituell verstehst, kann Wut wie ein Angriff auf dieses Selbstbild wirken. Ich darf so nicht fühlen – das passt nicht zu mir.“ 

 

9. Du fürchtest, Wut nicht wieder loszuwerden 

  • Viele Menschen haben Angst: Wenn ich sie einmal zulasse, hört sie nie wieder auf. Dabei ist Wut wie eine Welle – sie will gespürt werden und ebbt dann ab, wenn du ihr Raum gibst. 

 

10. Schuld- und Schamgefühle blockieren den Zugang 

  • Vielleicht glaubst du: Ich bin kein guter Mensch, wenn ich so fühle.“  Oder: „Meine Wut ist unfair. Ich habe kein Recht dazu. 

    Das führt dazu, dass du dich innerlich selbst abwertest – und dich von deiner eigenen Kraftquelle abschneidest. 


Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren – im Nervensystem, in den Gedanken, in unserem Umgang mit Emotionen. Sie führen dazu, dass Wut nicht als das gefühlt werden kann, was sie eigentlich ist: ein innerer Hinweis auf etwas, das uns wichtig ist.


Die Wege mit Wut – und welcher heilt 


Oben habe ich dir anhand des Beispiels mit der Absage der Freundin zwei Wege zum Umgang mit Wut beschrieben, wie wir mit Wut umgehen können: die erste Reaktion war eine impulsive Entladung – Wut wird ungefiltert und unreflektiert ausgedrückt. In diesem Modus übernimmt die Wut die Kontrolle. Wir sagen oder tun Dinge, die wir später bereuen. Das entlädt zwar kurzfristig Spannung – zerstört aber oft Beziehungen und Vertrauen. 


Die zweite Reaktion war Unterdrückung – Wut wird weggedrückt, runtergeschluckt oder in eine mentale Schublade gepackt. Stattdessen zeigen wir vielleicht Traurigkeit, Schuld oder „funktionieren einfach weiter“.  Das Problem: Unterdrückte Wut verschwindet nicht.  


Im Mind-Body-Zusammenhang sehen wir oft, wie langfristig unterdrückte Emotionen zu chronischen körperlichen Symptomen führen – von Verspannungen über Erschöpfung bis zu chronischen Schmerzen oder Autoimmunreaktionen. 


Deshalb gilt es als so wichtig, Gefühle zu spüren, vor allem die unterdrückten - oft auch gegensätzliche -, und dazu gehört auch Wut. Wie kann man das in einem sicheren Raum tun, ohne andere oder sich selbst zu verletzen?


JournalSpeak, aber auch Emotional Processing im Allgemeinen, zum Beispiel mit EAET, sind für mich die sogenannten Go-to-Tools, um Wut sicher zuzulassen, zu fühlen, ohne sie auszuagieren. Das ist für mich der heilsame Weg.  Hier geht es darum, Wut sicher, bewusst und mit Mitgefühl zu erleben - nicht als Gefahr, sondern als Hinweis auf ein tieferes Bedürfnis oder eine innere Verletzung. 


ANSR als Antwort


Aus dem JournalSpeak ist das ANSR-Modell bekannt, das dir helfen kann, gerade mit starken Emotionen wie Wut in Kontakt zu kommen, ohne sie auszuagieren oder zu unterdrücken. Statt sie wegzuschieben oder dich von ihr überrollen zu lassen, bietet ANSR einen sicheren Rahmen, um Wut (oder jede andere starke Emotion) wirklich zu fühlen und gleichzeitig verbunden und präsent zu bleiben


  • A – Allow (Erlaube es):

    Erlaube dir, wütend zu sein. Sag dir innerlich: „Ich darf wütend sein.“ Ohne Rechtfertigung, ohne sofort zu analysieren, ohne dich schuldig zu fühlen. Die Erlaubnis allein ist oft schon ein erster heilsamer Schritt, weil wir so selten wirklich das Gefühl haben, dass Wut „okay“ ist.


  • N – Name (Benenne es):

    Benenne, was du spürst. Zum Beispiel: „Ich spüre Hitze in meinem Bauch.“ „Meine Hände sind angespannt.“ „Mein Atem geht schneller.“ Durch das Benennen wird die Emotion konkreter, greifbarer und verliert oft schon etwas von ihrem bedrohlichen Charakter.


  • S – Stay  (Bleibe dabei):

    Bleib einen Moment bei der Emotion. Nicht gleich ablenken, nicht sofort beruhigen oder „wegmachen“. Spüre, wie sich die Wut anfühlt, wo sie sitzt, wie sie sich vielleicht verändert. Genau hier entsteht oft die größte Heilung: im Raumhalten für das, was wir so lange weggeschoben haben.


  • R – Release (Lasse es los):

    Lass die Emotion schließlich los – auf eine Art, die sich für dich sicher anfühlt. Das kann Schreiben sein, Bewegung, Tanzen, Weinen, ein lauter Seufzer oder ein bewusstes inneres Umarmen. Das Loslassen geschieht meist fast von selbst, wenn wir den vorherigen Schritten Raum gegeben haben.


Was, wenn ich Angst vor meiner Wut habe? 


Diese Angst ist verständlich.  Viele Menschen fürchten, dass Wut sie überwältigt – oder dass sie sie nicht mehr loswerden.  Doch Wut ist eine Welle, keine Flut.  Wenn du ihr Raum gibst, darf sie durch dich hindurchfließen – sie bleibt nicht für immer. 


Manchmal kommen nach der Wut andere Gefühle:  Scham. Schuld. Traurigkeit. Auch das ist okay.  Es zeigt, dass du Mitgefühl hast – und dich bewusst reflektierst. Alle Gefühle sind willkommen. Alle Gefühle dürfen da sein und gleichzeitig in dir existieren. Du bist nicht deine Wut, oder deine Traurigkeit. Du bist ein faszinierendes Spektrum aller Gefühle.


JournalSpeak-Fragen zum Thema Wut


Möchtest du deine Beziehung zur Wut erkunden? Hier findest du einige Fragen, die dir helfen können, deine persönliche Wut besser kennenzulernen und ihr vielleicht ein Stück näherzukommen:


1. Wie habe ich in der konkreten Situation reagiert?

(z. B. in einer ähnlichen Situation wie mit der Freundin, die abgesagt hat)

  • Was war mein allererster Impuls? Habe ich ihn zugelassen?

  • Habe ich meine Wut gespürt – oder eher etwas anderes wie Traurigkeit, Hilflosigkeit oder Leere?

  • Habe ich meine Gefühle gezeigt? Oder sie versteckt? Warum?


2. Habe ich Zugang zu meiner Wut?

  • Wie leicht oder schwer fällt es mir generell, meine Wut zu spüren?

  • Kommt Wut bei mir schnell – oder eher gar nicht?

  • Wenn ich an Wut denke – spüre ich Angst? Schuld? Scham? Oder sogar Stolz und Klarheit?


3. Welche inneren Sätze tauchen auf, wenn ich wütend bin?

  • "Ich darf nicht wütend sein, sonst…"

  • "Wenn ich wütend bin, bin ich keine gute Freundin / kein guter Mensch."

  • "Wut bedeutet, dass ich schwach / unkontrolliert / hysterisch bin."

  • "Wenn ich wütend bin, verliere ich die Kontrolle."

  • Welche dieser Sätze treffen (unbewusst) auf mich zu?


4. Wie habe ich gelernt, mit Wut umzugehen?

  • Wie wurde in meiner Familie mit Wut umgegangen?

  • Gab es Raum für meine Wut als Kind? Wurde sie gehört – oder ignoriert, beschämt, bestraft?

  • Gab es Vorbilder, die gesunde Wut gezeigt haben – oder nur extreme Reaktionen?


5. Wie zeigt sich Wut in meinem Körper?

  • Wo spüre ich Spannung oder Enge, wenn ich wütend bin?

  • Gibt es körperliche Symptome, die auftauchen, wenn ich eigentlich wütend bin, es aber nicht ausdrücke?

  • Wenn ich an die Situation denke: Was spüre ich jetzt gerade im Körper?


6. Was bräuchte meine Wut von mir?

  • Wenn ich meine Wut als etwas Lebendiges sehe – was würde sie mir sagen?

  • Was möchte sie ausdrücken, zeigen, schützen?

  • Welche Bedürfnisse stecken unter meiner Wut? (z. B. Gesehen werden, Grenzen, Sicherheit)


7. Was würde ich am liebsten tun, wenn ich mich sicher fühlen würde, meine Wut zu zeigen?

  • Würde ich klarer kommunizieren? Grenzen setzen? Eine Pause machen? Weinen? Schreiben?

  • Was hindert mich im Alltag daran?


8. Wie kann ich mit Wut umgehen, ohne sie zu unterdrücken oder auszuleben?

  • Was würde ein sicherer Umgang mit meiner Wut für mich bedeuten?

  • Wie kann ich meiner Wut einen inneren Ausdruck geben – z. B. im Schreiben, im Körper, im Gespräch mit mir selbst?

  • Was brauche ich, um mich mit Wut sicher zu fühlen?

 

Wut ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Sie ist ein Hinweis auf dein lebendiges Inneres. 

Wenn du lernst, Wut nicht als Gegnerin, sondern als innere Wächterin zu sehen,  verändert sich dein Umgang mit dir selbst –  und mit der Welt um dich herum. 

Vielleicht ist genau heute der Tag,  an dem du deiner Wut zum ersten Mal wirklich zuhörst. 

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