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Kampf-Flucht-oder-Starre
In dem letzten Kapitel hast du erfahren wie das autonome Nervensystem funktioniert. Wie wir physiologisch auf stressige oder bedrohliche Situationen reagieren, ist in uns seit Zeiten des Urmenschen verankert. Wenn du keine Angst oder wenig Stress hast und dich entspannen kannst, ist dein autonomes Nervensystem im sogenannten parasympathischen “Erholungs- und Wiederherstellungsmodus” (rest and restore). Du atmest ruhiger und tiefer, deine Muskulatur entspannt sich, dein Herzschlag ist regelmäßig. Dein Körper erholt sich und Körperschaden werden schneller repariert.
Sobald du angespannt bist, Angst und Stress hast, wird vom autonomen Nervensystem die sympathische “Kampf- oder Flucht-” Alarmreaktion aktiviert. Deine Herzfrequenz beschleunigt sich, dein Atem wird schneller und oberflächlicher, dein Blutdruck erhöht sich, Adrenalin und Cortisol werden in großen Mengen ausgeschüttelt und in den ganzen Körper transportiert. Dein Körper wird in kürzester Zeit auf Stressreaktion umgestellt. Dein Körper steht bereit, die Gefahr abzuwehren oder vor der Gefahr schnellstmöglich zu fliehen.
Hier hat die Evolution wieder mit Absicht gehandelt – unsere Vorfahren waren täglich vielen realen Gefahren ausgesetzt und mussten schnell handeln. Der Körper musste in dem Moment funktionieren und die Evolution hat die Körperfunktionen dementsprechend angepasst. Der Unterschied ist nur, dass sie damals wirklich nur für gefährliche Situationen aktiviert wurden. Die Angst und Vorsicht wurden aber in unser DNA programmiert.
Noch eine weitere Extreme ist die parasympathische Reaktion der kompletten Resignation. “Freeze” auf Englisch, oder Schreckstarre – man erstarrt vor Gefahr, kämpft nicht, flieht nicht, die Gefahr scheint ausweglos, man gibt auf. Wie eine Maus, die sich vor einer angreifenden Katze totstellt. Diese Erstarrung und Resignation können irgendwann zu einer Depression und Erschöpfung entwickeln.
Diese biochemische Reaktion wird bei Gefahr auch bei Tieren aktiviert. Du hast bestimmt schon mal eine Naturdoku angeschaut in dem eine Gazelle vor einem Gepard geflüchtet ist. Um zu überleben muss sie schneller rennen als das schnellste Tier der Welt. Was du in dieser Szene beobachtest hast, ist die “Kampf-oder-Flucht" Reaktion. Und wenn die Gazelle nicht mehr flüchten kann oder von dem Gepard gefangen wird, liegt sie meistens regungslos da und stellt sie sich "tot". Das Tier ist resigniert, kämpft nicht und kann nicht mehr flüchten.
Die Welt von heute ist aber viel komplexer als zu den Zeiten des Urmenschen. Komplexer, überstimulierter aber auch sicherer! Nicht hinter jedem Busch lauert heute ein Säbelzahntiger und nicht jede tägliche Situation des modernen Menschen ist lebensbedrohlich. Ja, man ist verzweifelt, wenn man nicht den Traumjob ergattert, man könnte dem Recruiter ins Gesicht pöbeln was er für einen großen Fehler gemacht hat oder sich nie wieder bei einem Job bewerben, aber gibt es nur die zwei Optionen als Reaktion? Definitiv nicht. Dein Gehirn und dein autonomes Nervensystem wissen's aber nicht. Für sie ist die Situation gleichzusetzen mit einem Angriff des Säbelzahntigers und das Nervensystem reagiert mit dem Überlebensmodus.
Wenn man an chronischen Stress leidet, wiederkehrende Schmerzen hat bzw. ständig alles im Umfeld nach Gefahren abscannt, bleibt das Nervensystem in dem “Kampf oder Flucht” Modus stecken bzw. resigniert komplett in dem "Starre" Modus. Und diesen Zustand kann kein Körper dauerhaft aushalten. Stress und Angst verursachen noch mehr Stress und Angst, und die Symptome verschlimmern sich. Am Ende ist man die Ruine seiner selbst, körperlich und psychisch.
Wie du schon im letzten Kapitel über das autonome Nervensystem lesen konntest, beides - parasympatisches und sympatisches Nervensystem – sind lebenswichtig. Auch Stress ist notwendig – Stress mobilisiert die Energie im Körper, es hat uns Menschen geholfen zu überleben. Kurzfristiger Stress erhöht die Leistungsfähigkeit. Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet. Du fühlst dich getrieben mit Energie, dein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, deine Muskeln sind durchblutet. Aber es ist die gesunde Dosierung von Stress und Erholung, die den Unterschied macht; der kontinuierliche fließende Wechsel zwischen den verschiedenen Modi macht ein gesundes reguliertes Nervensystem aus. Wenn du aber zu viel Zeit in einem Modus verbringst, gerät der Körper aus dem Gleichgewicht und das tut dem Körper langfristig nicht gut. Deine chronischen Beschwerden sind höchstwahrscheinlich Folge dieser Dysregulation.
Bei chronischen Beschwerden gerät dieser gesunder Wechsel (Homoöstase) häufig aus dem Gleichgewicht. Nur wenn man den Teufelskreis der Angst und Starre durchbricht, gelingt es die Homoöstase wiederherzustellen. Die gute Nachricht ist – das ist lernbar! Und die Tools, die ich auf dieser Webseite beschreibe, helfen dir dabei.
Damit du es besser verstehen kannst, linke ich unten ein lehrreiches Video des Berliner Psychotherapeuten Mathias Thimm, der die Funktionen des Polyvagal-Kreises zusammenfasst und erklärt was ein gesunder Wechsel zwischen dem ventralen Vagus, Sympathikus und dorsalen Vagus ausmacht:
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