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Gehirn und Neuroplastizität

Wenn ich vom Gehirn rede, meine ich das Organ, und nicht dich oder explizit dein Gehirn. Ich meine auch nicht, dass du dein Gehirn immer bewusst lenkst und damit an allen Prozessen beteiligt (oder sogar schuldig!) bist! 90% unserer 70.000 bis 90.000 Gedanken pro Tag laufen unbewusst und auf Wiederholung. Die große Mehrheit der alltäglichen Entscheidungen finden ohne dein bewusstes Wissen und ohne deine bewusste Handlung statt. Das ist auch von der Evolution so gewollt, damit wir in gefährlichen Situationen schnell reagieren und möglichst unverletzt (und am Leben) bleiben.


Wenn du eine heiße Herdplatte berührst, entscheidet dein Gehirn, dass es gefährlich ist und weh tun soll, weil Gewebeschäden entstehen könnten. Das tut es ohne dich zu fragen. Wenn du diese Entscheidung bewusst treffen müsstest, würde das viel zu lange dauern und deine Verletzungen wären viel schlimmer. Also, entscheidet das Gehirn in dem Moment für dich, um dich zu schützen.

Das Gehirn ist sehr komplex und die Neurowissenschaftler haben noch sehr viel zu entdecken. Was sie aber jetzt schon wissen ist, dass das Gehirn die unfassbare Fähigkeit besitzt, sich ständig zu ändern, Neues zu lernen oder Altes zu verlernen. Diese Fähigkeit nennt man Neuroplastizität. Und das ist eine gute Nachricht! Das heißt, dass alles was das Gehirn über die Jahre für Reaktionen und Verhalten gelernt hat, kann von dir verlernt und neuprogrammiert werden.  
 
Manchmal trifft das Gehirn aber auch eine
Fehlentscheidung und löst einen Fehlalarm aus. Das heißt, das Gehirn übertreibt die Reaktion wie Schmerz, obwohl eigentlich keine Reaktion nötig ist. Das Gehirn deutet bestimmte neutrale Empfindungen als “gefährlich” und lässt Schmerz entstehen. Diese Schmerzerfahrung wird weiter so abgespeichert bis die Reaktion konditioniert als “default”-Reaktion (=das neue Normale) auftritt. 

Neuroplastische Störungen sind chronische Schmerzen, Schmerzausstrahlungen und Störungen, die anhand dieser unerwünschten fehlerhaften Lernprozesse der Nervenzellen entstehen bzw. aufrechterhalten werden. Das Phänomen der Schmerzausstrahlung basiert auf einer Fehlinterpretation von Nervensignalen. (Uni Heidelberg

Das Gehirn schätzt voraus

Weil es viel zu anstrengend und zeitaufwändig für das Gehirn wäre, die Reaktionen und Abläufe jedes Mal aufs Neue zu bewerten, speichert das Gehirn bestimmte gelernte Verknüpfungen vorprogrammiert ab. Damit kann es effizienter arbeiten und schneller auf passende Reaktionen zugreifen. Zum Beispiel das Fahrradfahren hat das Gehirn einmal gelernt und muss nicht jedes Mal aufs Neue alle Bewegungsabläufe analysieren. Es greift auf die gespeicherten Informationen. Dieses Phänomen nennen die Neurowissenschaftler “predictive coding” - das Gehirn schätzt voraus welche Reaktionen nötig sind. 

Ähnlich verhält sich das Gehirn bei chronischen Schmerzen. Wenn eine neutrale körperliche Empfindung und eine neutrale Aktivität wie z.B. Sitzen im Gehirn einmal als schmerzhaft verknüpft und abgespeichert werden, wird das Gehirn diese vorprogrammierte Reaktion jedes Mal beim Sitzen aktivieren. Je öfter es wiederholt wird, desto fester wird die Verknüpfung. Diese Schmerzerfahrung wird weiter so abgespeichert bis die konditionierte Reaktion als “default” (=das neue Normale) gilt. Et voilá, du bekommst chronische Schmerzen, wenn du viel sitzt. 

Diese fehlerhaften Verknüpfungen kannst du mit den Tools umprogrammieren.  

Schmerz als Schutz

Schmerz hat eine Schutzfunktion. Akuter Schmerz ist ein Alarmsignal, dass im Körper etwas kaputt sein könnte und man sich in Sicherheit bringen sollte. Zum Beispiel, wenn man sich das Bein bricht, tut es höllisch weh, und damit signalisiert das Gehirn, dass man nicht weiterlaufen soll, sich am besten zurückziehen und erholen soll, bis der Körper wieder heil ist. Das hat die Evolution mit Absicht so gewollt – mit einem kaputten Bein wäre der Urmensch viel langsamer unterwegs gewesen und den Gefahren schutzlos ausgeliefert gewesen. 

Aber was ist mit chronischen Schmerzen? Es ist im Körper eigentlich nichts kaputt. Aber das Gehirn sieht es trotzdem als seine Aufgabe, dich dauerhaft zu schützen. Warum entstehen Schmerzen, wenn nichts kaputt ist? Wovor sollen die Schmerzen dich dann schützen? 

Die Antwort ist dieselbe: Gefahr! Oder besser gesagt, Angst vor Gefahr. 

 

Dem Gehirn ist es egal ob es Sinn macht, ob du damit einverstanden bist oder ob du dabei leidest. Die einzige Aufgabe deines Gehirns ist es, dich am Leben zu erhalten. Und mit Schmerzen will es dich vor Gefahren schützen. 

 

Das klingt ziemlich absurd, oder? Aus Entwicklungssicht ist es aber gar nicht absurd – ohne diese Funktion des Gehirns würde es uns Menschen heute nicht mehr geben.  Stell dir einen Urmenschen vor, der den Gefahren der Natur voll ausgesetzt war. In jedem raschelnden Busch hätte sich ein Säbelzahntiger auf ihn lauern können, und tat es auch oft. Vorsicht und Angst waren die täglichen Begleiter des Urmenschen. Und so entwickelte sich das Angstgedächtnis über Jahrtausende.  

 

Das Gehirn hat sich seitdem selbstverständlich sehr viel weiterentwickelt. Aber leider hat das Gehirn bis heute nicht gelernt, effektiv zwischen realen und mutmaßlichen Gefahren zu unterscheiden. Das Leben hat täglich seine Herausforderungen. Große Gefühle, Ängste, komplizierte Beziehungen mit Mitmenschen, makro- oder mikrotraumatische Erfahrungen, Alltagsstress und Leistungsdruck. All das gehört zum Menschsein. Und all das wird von unserem modernen Gehirn als Stress und Gefahr übersetzt. Nicht nur alle körperlichen Verletzungen, aber auch alle emotionalen Erfahrungen werden Teil von uns. Was wir erleben – physisch oder psychisch - wird unsere biologische Zusammensetzung. 

Deine Biografie wird zu deiner Biologie
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